Selbstliebe oder Selbstinszenierung
Warum ein malender Mensch mehr über echtes Leben verrät als tausend perfekt bearbeitete Selfies?
Was Erich Fromm dazu sagen würde?
Der heiße Trend zur „Self-Love ala Selfie“ – ein Missverständnis?
Selfies sind hip. Ihre Selbstliebe hat Hashtags, sekundenschnelle Retreats, modernste Make-ups, exklusive Meereskosmetik-Beauty-Pflegelinien, aufgespritzten Mund in Zackenform und mehr als das. Während die Körper gestrafft und geformt werden, wird der Weg zur Selbstliebe nicht authentischer. Je glatter die Hülle, desto brüchiger der Kontakt zur eigenen Wahrheit.
Selbstliebe ist kein Egoismus – sie ist die Wurzel des Lebens. Die Liebe zu sich selbst beginnt nicht mit dem Körper, sondern mit der Bereitschaft, sich in seiner -angeblichen-Unvollkommenheit zu bejahen.
Die 20er Jahre des 21. Jahrhunderts sprechen von Self-Love als Selbstinszenierung. Was dabei verloren geht, ist die Tiefe eigenes Seins.
Mitte Juni bei einem Mittagessen erzählte mir meine Kollegin von ihrer Stieftochter Tola [Name geändert], 13 Jahre alt, das mittlere von drei Geschwistern und die ältere in einer Patchworkfamilie. Neben schulischen Schwierigkeiten, wiederkehrenden Lügen und Konflikten mit den Patchwork-Geschwistern, zeigte sich meine Kollegin besonders besorgt über Tolas verhalten auf TikTok. Dort postet das junge Mädchen Selfies in aufreizenden Posen. Das letzte Foto zeigt sie in sexy Mini-Top, einem Mini-Rock, betonten Lippen -, mit dem offensichtlichen Wunsch, als begehrenswert wahrgenommen zu werden.
Der Vater weiß nichts davon. Tolas leibliche Mutter vermeidet generell jegliche Auseinandersetzung. Meine Kollegin selbst erhielt diese Information über eine außenstehende Bekannte.
Was zunächst als ein „jugendlicher Ausdruck“ abgetan werden kann, wird bei näherer Betrachtung zum Spiegel einer tieferen Unsicherheit. Im Gespräch konnte sich zeigen, dass sie nach Aufmerksamkeit, einer Bestätigung und vielleicht auch Liebe sucht, aber auf eine Weise, die nicht Ausdruck echter Selbstannahme ist, sondern eher als ein Ersatz für nicht vermitteltes und gelebtes Selbstwertgefühl zum Vorschein kommt.
Bild von Mircea Iancu auf Pixabay
Selbstliebe im Sinne Erich Fromms ist nicht mit Egoismus, Narzissmus oder oberflächlicher Inszenierung eigener Bedürfnisse zu verwechseln. Sie ist vielmehr eine bejahende Haltung zu sich selbst, gegründet auf Achtsamkeit, Verantwortung, Respekt, Wissen um den eigenen Wert und einem gesunden Verständnis zu sich selbst. Tolas Verhalten verweist auf einen stummen Ruf nach Zugehörigkeit und Anerkennung.
Fromm betont: Wer sich selbst nicht in gesunder Weise lieben kann, wird auch anderen keine reife Liebe schenken können.
Die Herausforderung für Erwachsene im Umfeld, vor allem für Eltern, Patchworkfamilie, Lehrerschaft, Nachbarschaft liegt darin, Kinder und Jugendliche nicht nur äußerlich zu pflegen und für sie oberflächlich zu sorgen, sondern sie innerlich zu stärken und ermöglichen, dass sie gesund heranwachsen dürfen. Dies könnte auch heißen, ihnen zu helfen, ein Ja zu sich selbst zu finden, das tiefer geht als Likes und virtuelle Bestätigung.
Gespritzte Lippen, gespitzte Wirklichkeit
Tolas Beispiel rüttelt noch einmal. Die Selfie-Kultur mit gebleachten Zähnen, gefiltertem Gesicht und Botox-Glow mag eine toxische Illusion verkaufen: Liebe dich, aber erst, wenn du perfekt nach Maßstäben des Mainstreams bist.
Fromm würde sagen: Das ist Entfremdung, und nicht Liebe oder Selbstliebe. Menschen wie Tola verlieren sich in Bildern, die sie von sich selbst erschaffen, und zwar nach dem Gedünkt anderer.
Der gespritzte Mund lacht nicht aus Freude; die Schwierigkeiten sind größer, als es den Anschein hat.
Von der Tiefe zur Oberfläche und zurück
Selbstliebe im Frommschen Sinne ist kein Lifestyle. Sie ist eine Fähigkeit, sich selbst zu lieben. Dies ist die Voraussetzung dafür, andere wirklich zu lieben. Selbstliebe hat mit einem Risiko zu tun: Sie braucht Mut. Eine mutige Entscheidung dafür, sich selbst zu begegnen. Es bedeutet auch, sich von der Täuschung zu befreien, dass man sich nur lieben kann, wenn man für andere „auftritt“, so wie sie es glauben wollen.
Stell Dir einen Menschen vor, der malt. Nicht für Likes oder Applaus, sondern, weil in ihm Farben und Formen sind, die hinauswollen. Wenn dieser Mensch still vor sich hinmalt, ist er gegenwärtig. Er ist dem Prozess hingegeben. Er denkt nicht: „Wie sehe ich dabei aus?“ oder „Was denken darüber andere?“ Er ist. So würde wahrscheinlich auch Fromm sagen, er entfaltet sich, weil er ist. Die eigene Entfaltung geschieht demnach durch Sein. Sich entfalten bedeutet nicht, sich um jeden Preis verändern zu müssen, um akzeptiert zu werden oder zu genügen. Sich entfalten bedeutet auch nicht, sich selbst aufzugeben, nur um Erwartungen zu erfüllen.
Sich entfalten bedeutet im Frommschen Sinne eine lebendige Selbstwerdung. Du darfst Dich entfalten, weil Du bereits Du selbst bist.
Im Buch „Haben oder Sein“ schreibt Erich Fromm darüber, dass der Mensch sich selbst nur im Akt des Seins verwirklichen kann, nicht im Akt des Habens.
Tolas Geschichte kann eine Beispiel-Geschichte für den Zustand vieler Jugendlichen sein. Es scheint, dass sie sehr stark zwischen „haben und optimieren“ und „sein und lieben“ schwenken und sich eher für Selbsttäuschung entscheiden.
Was nützt der perfekte Spiegel, wenn das Selbst sich darin nicht erkennt?
Vielleicht brauchen wir heute weniger über Selbstliebe zu sprechen, um diese wertschätzen zu lernen? Vielleicht sollten wir, jung und alt, anders über Selbst-Liebe denken-fühlen-handeln? Oder ist Selbstliebe nur für Mutige? Mit dem Wert und der Fähigkeit der Selbstliebe ist sicherlich mehr Mut zur Tiefe gedacht.
Und mehr malende Menschen – weniger gestylte Avatare. Mehr Stille – weniger Posts. Mehr Sein – weniger dies und jenes sofort haben wollen.
Wer sich selbst wirklich liebt, tut das nicht sichtbar, laut oder exzentrisch. Es geschieht einfach innen, spürbar, wahrhaftig. Unaufgeregt. Um zu sein.
Zum Minikurs #2:
“Selbstliebe versus Selfie”
Selfies zeigen Dich, aber kennst Du Dich wirklich?
Sich selbst zu lieben ist kein Akt der Eitelkeit, sondern der Verantwortung. Fromm erkannte: Wahre Liebe beginnt bei uns selbst, nicht im Spiegelbild, sondern im Selbstbild.
Für Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren und ihre Beziehungsberechtigten.