Die Kraftquelle der Weite
Gleinkersee. Foto von Manfred Cerne. Die Stille draußen sagt oft mehr als der Lärm in uns.
Ein stiller Raum für Freiheit, Leichtigkeit und lebendige Gegenwart
Vor Kurzem, während einer achtsamen Gruppenarbeit, tauchte plötzlich das Wort WEITE auf – sanft wie der Wind, der über Bergrücken streicht, und doch kraftvoll genug, etwas in mir zu öffnen, das bis dahin namenlos war. Seitdem begleitet mich die Weite wie ein inneres Bild: kein äußerer Ort, sondern eine Kraftquelle in mir, zu der ich immer wieder zurückkehre.
In einer Zeit, die uns auffordert, immer schneller, produktiver und effizienter zu sein, wird die Kraftquelle der Weite zu einem inneren Anker. Sie führt uns zurück – nicht zu einem vagen Ideal von Ruhe, sondern zu dem, was wirklich zählt: unserer inneren Freiheit, unserem wahren Selbst.
Weite ist kein unnahbarer Luxus. Sie ist ein offener Raum voller Möglichkeiten – Raum für Entfaltung, neue Perspektiven und lebendige Qualitäten. Eine Weite, die nicht leer ist, sondern durchlässig, still und lebendig; ein Raum, in dem wir uns nicht verlieren, sondern finden.
Sie ist eine Haltung. Eine stille, oft unbemerkte Kraft, die uns den Raum schenkt, bewusst zu fühlen, zu denken, zu atmen – und eigene Lebendigkeit erst richtig zu spüren. Weite ist der stille Innenraum, in dem neue Möglichkeiten erblühen dürfen. Sie ist auch ein Zwischenraum zwischen Sein und Tun. Sie ist das sanfte Dazwischen, in dem wir uns selbst nicht verlieren, in dem wir uns geistig und seelisch entfalten dürfen.
Psychologisch betrachtet ist Weite eng mit dem verknüpft, was die amerikanische Psychologin Barbara Fredrickson als „Broaden-and-Build“ –Effekt bezeichnet: Positive Emotionen – wie Freude, Dankbarkeit, Staunen oder echtes Lachen – erweitern unser Denken, machen uns empfänglicher für neue Perspektiven, fördern Kreativität, Flexibilität und soziale Verbundenheit. Weite ist kein leerer Raum. Sie ist lebendig. Sie wächst mit jeder bewussten Erfahrung von Leichtigkeit, Kontakt und sinnvollem Innehalten.
Foto von Jenna Anderson auf Unsplash. In der Weite verstummt der Lärm – und Dein Lachen findet wieder Raum.
Wenn wir lachen – aus einer echten Freude heraus – geschieht etwas Subtiles: Unser Nervensystem reguliert sich, die Atmung vertieft sich, die Gedanken klären sich. Lachen ist gelebte Weite. Es verbindet, löst, weckt. Es ist jene unaufdringliche Kraft, die uns zurückholt in den Körper, in den Moment, in unsere Menschlichkeit.
Philosophisch gesehen, ist Weite ein Echo alter Weisheiten – von den Stoikern, die in der inneren Unabhängigkeit ihren Frieden fanden, bis hin zu Denkern wie Viktor Frankl, für den die Freiheit der inneren Haltung selbst unter schwierigsten Bedingungen unantastbar blieb. Auch bei Hegel oder Kant schimmert eine Ahnung dieser Weite durch: als Möglichkeit, sich selbst zum Maßstab verantwortungsvollen Handelns zu machen – und dabei offenzubleiben für das Ganze.
Doch Weite will nicht nur verstanden, sie will verkörpert werden.
Sie zeigt sich in der Gelassenheit, die nicht Gleichgültigkeit, sondern ein tiefes Vertrauen meint.
In der Achtsamkeit, die nicht Selbstoptimierung, sondern liebevolle Präsenz ist.
In der Bewegung, die nicht Flucht, sondern bewusste Teilnahme am Leben bedeutet.
Und in der Stille, die nicht Leere, sondern Weite im Innenraum erschafft.
Wenn wir Weite kultivieren, geschieht etwas Paradoxes: Wir werden nicht abgehobener – wir werden präsenter. Weniger reaktiv, dafür wacher. Weniger eng, dafür transparenter. Und das wiederum stärkt unsere Resilienz, unsere Beziehungen und unsere Kreativität. Die Kraftquelle der Weite ist damit nicht bloß ein schöner Gedanke – sie ist auch eine Praxis. Eine Einladung. Eine tägliche Entscheidung.
Eine Bemerkung: Barbara Fredrickson verwendet in ihrer wissenschaftlichen Arbeit – insbesondere in ihrer „Broaden-and-Build“-Theorie – ganz bewusst den Begriff „positive emotions“. Das ist der zentrale Terminus in ihrem Modell. Sie zählt dabei explizit Emotionen, wie etwa:
· Joy (Freude)
· Gratitude (Dankbarkeit)
· Serenity (Gelassenheit, Heiterkeit)
· Interest (Interesse/Neugier)
· Hope (Hoffnung)
· Love (Liebe)
Diese nennt sie in ihren Texten „positive emotions“, nicht „feelings“ oder „states of consciousness“, auch wenn sich in anderen Zusammenfassungen manchmal andere Begriffe finden.
Ihr Grundlagenartikel zur Broaden-and-Build-Theorie ist hier abrufbar: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3122271/
Impulse zum Nachspüren:
· Wann in meinem Alltag öffnet sich Weite ganz natürlich – ohne Anstrengung?
· Welche positive Emotion (in Fredricksons Sinne) in mir fühlt sich weit an – Lachen, Staunen, Freude, Mitgefühl?
· Wie kann ich bewusst Räume schaffen, in denen Weite wachsen darf?
Habe viel Freude beim Nachspüren und Erleben!